Renaissance der Genossenschaften –
aus der Praxis, für die Praxis
K i e l MT 21.06.2021 – Die gemeinschaftliche Übernahme von Verantwortung in der Kommune oder in der Region findet immer mehr Anhänger*innen. Dabei erlebt die Genossenschaft als etablierte Organisations- und Rechtsform gerade eine Renaissance – ob bei erneuerbaren Energien oder Baugruppen, ob bei Bürgermobilität oder Coworking-Spaces, ob bei Landgasthöfen oder Dorfläden. In der MarktTreff-Familie gibt es bereits fünf Standorte, die auf die Leitidee von Friedrich Wilhelm Raiffeisen setzen: „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.“ So begann Mitte des 19. Jahrhunderts die Erfolgsgeschichte der Genossenschaft und hat seitdem viele Veränderungen und Anpassungen erlebt.
Wer sich heute als MarktTreff-Gemeinde für eine Genossenschaft interessiert, stößt auf eine Reihe von Fragen zu Beratung, Gründung und Prüfung: Welche Vorteile bietet diese Lösung? Dürfen sich Gemeinden an Genossenschaften beteiligen? Welche Kosten sind einzuplanen? Was kann aus bisherigen Erfahrungen gelernt werden? Und letztlich: Wie zufrieden sind die genossenschaftlich organisierten MarktTreffler*innen mit ihrer Entscheidung?
Diese Fragen werden von erfahrenen Praktikern beantwortet – hier im Text und im MarktTreff-YouTube-Kanal. Ergänzend finden Sie am Ende dieses Beitrags hilfreiche Unterlagen und Ansprechpartner für eine individuelle Beratung.
Christina Pfeiffer aus dem Innenministerium Schleswig-Holstein befasst sich seit geraumer Zeit mit dem Thema: „Genossenschaften geben den MarktTreffs starke Impulse für die Übernahme gemeinsamer Verantwortung. Interessierte Gemeinden sollten die Möglichkeit zur Realisierung dieser Form der Trägerschaft auf jeden Fall prüfen.“
Brodersby-Goltoft: Gute Erfahrungen mit der Genossenschaft
Wie weiter mit dem MarktTreff? Vor dieser Frage standen die Bürger*innen in Brodersby-Goltoft (Kreis Schleswig-Flensburg), als der bisherige Betreiber, die Neue Arbeit Nord, ankündigte, sich aus dem Geschäftsbereich Lebensmittelversorgung zurückzuziehen. Nach einigen Überlegungen griff man dankbar die Anregung zu einer Bürgergenossenschaft als Trägerin auf: Ein Besuch in Kirchbarkau (Kreis Plön) bei der dortigen Bürgergenossenschaft Barkauer Land lieferte weitere gute Argumente und festigte die Überzeugung.
Anfang November 2019 sorgte die Gründungsversammlung zur Bürgergenossenschaft Schleidörfer für eine große Überraschung – nicht nur bei den Mitgliedern der Gemeindevertretung: „Die St.-Andreas-Kirche war komplett gefüllt, selbst auf der Empore und im Kircheneingang standen die interessierten Menschen“, erzählt Thomas Becker, der als Gemeindevertreter und einer der Initiatoren der Bürgergenossenschaft dabei war. Damit habe wirklich niemand gerechnet. „An dem Abend haben gleich 120 Teilnehmende ihre Bereitschaft schriftlich erklärt, Genossenschaftsanteile zu zeichnen. Das hat uns alle überwältigt und bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg waren.“ Heute hat die mittlerweile eingetragene Bürgergenossenschaft Schleidörfer eG rund 280 Mitglieder, die insgesamt rund 550 Anteile halten.
Vorbereitet und begleitet wurden die ersten Etappen von Joachim Burgemeister vom Genossenschaftsverband in Rendsburg. Diese Unterstützung in Versammlungs- und Rechtsfragen hält Thomas Becker – gemeinsam mit Michaela Wichert im Vorstand der Genossenschaft – für enorm wichtig: „Wir sind als Gemeindevertretung zwar versiert in vielen Aspekten der Verwaltung. Aber mit Genossenschaften hatte niemand richtig Erfahrung – und das Thema ist speziell.“ Eine frühzeitige Kontaktaufnahme mit dem MarktTreff-Projektteam hält Becker ebenso für hilfreich – „da laufen schon viele Fäden zusammen und werden gute Verbindungen hergestellt“. Heute berät Thomas Becker selbst interessierte MarktTreff-Gemeinden und gibt Tipps zu Genossenschaften: „Was wir damals selbst in Kirchbarkau aus erster Hand erfahren haben, hat uns sehr geholfen.“ Das zeichne doch die MarktTreff-Familie aus: dass man sich in Krisenzeiten und bei offenen Fragen unterstütze.
Und Thomas Becker ging weiter: Er hat seine Erfahrungen notiert und ausgewertet. Hier finden Sie seine persönliche Kriterien- und Checkliste für Genossenschaften als Anstoß und Prüfkatalog für eigene Überlegungen.
Für die Menschen in Brodersby-Goltoft war die Gründung der Bürgergenossenschaft ein richtiger Schritt in die Zukunft. Heute betreibt die Genossenschaft den MarktTreff, das Geschäft läuft, die derzeit vier Beschäftigten sind dort angestellt. „Wir spüren bei Alteingesessenen und ebenso bei unseren Zweitwohnungsbesitzern und Gästen eine starke Verbundenheit zum Laden und zum Treffpunkt. Da wird eingekauft und geschnackt wie in besten Zeiten.“ Gerade unter Corona-Bedingungen hätten viele den echten Wert der Versorgung mitten im Dorf gespürt.
Mittelfristig gehen die Überlegungen in Brodersby-Goltoft darüber hinaus. Ein „Schleidörfer-Zentrum“ ist im Gespräch, eine Grundstücksfläche hat die Gemeinde dafür schon erworben: „Wir denken die MarktTreff-Idee ‘Alles unter einem Dach’ einfach weiter“, so Becker. Der neue MarktTreff solle ergänzt werden um Coworking-Space, E-Ladestation für Bikes und Auto, Selbsthilfewerkstatt, Beratungs- und Begegnungsstätte, Tagespflege, Arztpraxis, Jugendraum, Mehrgenerationenplatz für Spiel und Freizeit. Thomas Becker gerät bei der Aufzählung richtig ins Schwärmen – und es ist ihm anzusehen: Die Entscheidung im November 2019 war die richtige.
Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften: Neue Forderungen
Aufgrund ihrer hohen Stabilität genießen Genossenschaften einen guten Ruf und viel Vertrauen. In unterschiedlichen wirtschaftlichen Sparten schließen sich Menschen deshalb genossenschaftlich zusammen. Viele tun dies schon über Generationen und manche erst ganz neu. Genossenschaften selbst sind bundesweit in Verbänden organisiert – zwei große Verbände sind Partner der MarktTreff-Familie und haben schon bei Erfahrungsaustausch-Gruppen beraten:
- Genossenschaftsverband – Verband der Regionen e. V.
- Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V.
Der Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften (ZdK) hat gerade sein 500. Mitglied begrüßt. „Durch viele Multiplikatoren und unsere intensive Gründungsbetreuung haben wir in jüngster Zeit mächtig Auftrieb und Mitglieder erzielt“, erläutert Syndikusrechtsanwalt Mathias Fiedler, Vorstandssprecher des ZdK. Dem Verband sind klangvolle Namen wie taz / die Tageszeitung sowie seit dem Beitritt der Genossenschaften aus der ehemaligen DDR nun alle traditionellen Genossenschaften und eine Reihe von Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften verbunden. Aus der MarktTreff-Familie ist die Bürgergenossenschaft Heidgraben eG dabei.
Doch Genossenschaften stehen selbst vor großen Herausforderungen. Digitale Einladungen und Jahresversammlungen, Online-Abstimmungen und immer wieder das Thema der Prüfkosten seien hier genannt.
Warum sich Genossenschaften als Betreiber für MarktTreffs anbieten, dazu hat Mathias Fiedler, der auch Präsident von Euro Coop (Europäischer Verband der Konsumgenossenschaften) ist, einen Beitrag für den MarktTreff-YouTube-Kanal vorbereitet.
Gemeinden: Nur Mut zur Beteiligung an Genossenschaften
Christina Pfeiffer ist im Innenministerium Schleswig-Holstein Ansprechpartnerin für MarktTreff. Sie treibt die Frage um, ob und wie sich Gemeinden an MarktTreff-Genossenschaften beteiligen können: „Eine gemeindliche Beteiligung berührt das Gemeindewirtschaftsrecht und die Gemeindeordnung. Einige Aspekte sind gerade für ehrenamtliche Gemeindevertreter*innen nicht alltäglich“, so Pfeiffer. Hier ginge es um Fragen der Transparenz- und Informationsgebote sowie um die angemessene Einflussmöglichkeit in Abhängigkeit zum jeweiligen Einlagenanteil.
Jörg Bülow, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Schleswig-Holsteinischen Gemeindetags (SHGT), sieht bei MarktTreffs gute Chancen, die Vorgaben der Gemeindeordnung zu erfüllen. Er verwies unter anderem darauf, dass die beteiligte Gemeinde auf jeden Fall im Aufsichtsrat der Genossenschaft oder einem entsprechenden Überwachungsorgan vertreten sein müsse. Eine Gemeinde brauche zur Beteiligung an einer Genossenschaft keine Genehmigung, sie müsse dies aber bei der Kommunalaufsicht des jeweiligen Kreises anzeigen. Im Ergebnis befürwortet Bülow die Beteiligung von Gemeinden an MarktTreff-Genossenschaften: „Nur Mut dazu.“
Gleich zwei Verbände sind Partner des MarktTreff-Projekts und beraten Sie gern:
Genossenschaftsverband – Verband der Regionen e. V.
Ansprechpartner: Joachim Burgemeister
Raiffeisenstraße 1-3
24768 Rendsburg
Telefon 04331 - 1304-1224
E-Mail joachim.burgemeister@genossenschaftsverband.de
Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V. (ZdK)
Ansprechpartner: Mathias Fiedler
Baumeisterstraße 2
20099 Hamburg
Telefon 0421 - 34 67 85 – 11
Telefon 040 - 2 35 19 79 – 7
E-Mail fiedler@zdk.coop
Hilfreiche Informationen zu Genossenschaften
Broschüre von Genossenschafts- und Raiffeisenverband sowie Städte- und Gemeindebund
Informationen über Genossenschaften und deren Gründung vom ZdK (www.genossenschaftsgruendung.de)
Video: Genossenschaften: Warum sie sich als Betreiberinnen für MarktTreffs anbieten
Kriterien- und Checkliste für Genossenschaften von Thomas Becker, Bürgergenossenschaft Schleidörfer eG
Wir danken für die Unterstützung: Thomas Becker, Brodersby-Goltoft; Joachim Burgemeister, Genossenschaftsverband – Verband der Regionen; Mathias Fiedler, ZdK
Informationen zu Gründung und Betrieb eines MarktTreffs
Bei Interesse an der Gründung eines neuen MarktTreffs nehmen Sie bitte Kontakt auf mit dem Projektmanagement unter
gruendung@markttreff-sh.de
Detaillierte Informationen zum Projekt MarktTreff mit vielen Arbeitshilfen und aktuellen Tipps finden Sie unter
www.markttreff-sh.de
Fotos / Copyright:
ZdK / ews group / MarktTreff Schleswig-Holstein