Herausforderung Nahversorgung: Tante-M, Emma’s Tag & Nacht Markt und wällermarkt mit unterschiedlichen Entwicklungen
K i e l MT 16.05.2023 – Die wohnortnahe Versorgung auf dem Land ist in vielen Regionen Deutschlands ein Thema und führt zu neuen Konzepten. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Digitalisierung. Wir stellen Ihnen drei Modelle vor mit sehr unterschiedlichen Lösungen und Entwicklungen: Tante-M aus Baden-Württemberg, Emma’s Tag & Nacht Markt aus Thüringen und die Wäller Markt eG aus Rheinland-Pfalz.
Nahversorgung funktioniert ohne Verkaufspersonal
Vor vier Jahren machte sich Gründer Christian Maresch daran, Nahversorgungsläden für Morgen an den Start zu bringen. Unter dem Label „Tante-M“ bietet sein Konzept eine großzügige Auswahl bekannter Marken, Regionalprodukte zu „normalen Preisen“ und das an sieben Tagen die Woche. Der Clou: Der Laden funktioniert ohne Verkaufspersonal. Kassiert wird an Selbstbedienungs-Kassen, bezahlt wird mit Bargeld am Einzahlautomat, mit EC-/Kreditkarte oder mit der „Tante-M-Kundenkarte“. So macht Maresch Einkaufen an 365 Tagen im Jahr möglich, jeweils von morgens 5.00 Uhr bis abends 23.00 Uhr.
Die Tante-M-Läden konzentrieren sich auf Ortschaften zwischen 700 und 4.000 Einwohnern und stärken mit ihren Angeboten gezielt die Ortsmitten. Anscheinend trifft Maresch mit seiner Strategie die Markt- und Kundenanforderungen: Mittlerweile gibt es in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz an rund 40 Standorten eine „Tante-M“. Die Nachfrage ist weiter groß und laut Unternehmen kommt Interesse auch aus Österreich und der Schweiz. Diese starke Expansion erreicht das Unternehmen durch ein mittlerweile angeschlossenes Franchise-System.
Tante-M setzt auf Franchise und Wachstum
Tante-M bietet „alles, was man für den Alltag braucht“, so Kaufmann Maresch. Und das sind je nach Standort um die 1.100 Artikel. Dabei werden die Läden von „führenden Großhändlern“ beliefert, es gibt bekannte Eigenmarken wie GUT&GÜNSTIG und „Jeden Tag“-Produkte. Frische wie Backwaren, Fleisch und Wurst, Obst und Gemüse, Eier und Kartoffeln liefern nahe Anbieter aus der jeweiligen Region. Auf Alkohol und Tabakwaren wird ganz verzichtet. Dieses Modell scheint aufzugehen: Laut Unternehmen „eröffnen wir jede Woche einen Tante-M-Laden“ – gesucht werden weitere Betreiber:innen für rund 15 Gemeinden im Süden.
Die innerörtliche Kommunikation wird durch Pinnwände gefördert, echte Treffpunkte wie Café-Ecken bietet das Konzept nicht. Mit Diebstahl müsse man schon rechnen, sagt Maresch, aber dank Videoüberwachung würde sich dies sehr in Grenzen halten. Weiter betont einer der Betreiber, Christian Wenzler, kürzlich zu seinem Geschäft in der Gemeinde Oberjesingen (Baden-Württemberg), dass er die 100 Quadratmeter Fläche durch insgesamt 14 Lieferanten befülle. Zwei Minijobber würden wöchentlich die Regale bestücken und neue Waren bestellen. Er versuche, das Preisniveau eines Vollsortimenters zu halten, habe aber wie die gesamte Lebensmittelbranche mit rasanten Preissteigerungen zu kämpfen.
Maresch erklärte gegenüber den Stuttgarter Nachrichten, dass er „am liebsten Standorte in zentraler Lage und in Räumlichkeiten, die zwischen 60 und 100 Quadratmeter Verkaufsfläche bieten“ eröffne. Mit dem Konzept wolle das Unternehmen die Nahversorgung sichern beziehungsweise wiederherstellen. Der Bedarf sei erschreckend groß. Zu den Franchisegebühren äußerte sich Maresch nicht.
Informationen: tante-m.shop
Optimistischer Start: Emma’s Tag & Nacht Markt
Im Oktober 2020 klang Thorsten Weil, Thüringens Staatssekretär für Infrastruktur und Landwirtschaft, zuversichtlich: „Innovative Konzepte und digitale Lösungen sichern die Zukunft des ländlichen Raums.“ In der 1.200 Einwohner zählenden Gemeinde Altengottern hatte 2020 der erste „Emma’s Tag & Nacht Markt“-Dorfladen eröffnet. Dank digitaler Kundenkarte und individueller PIN konnte man dort rund um die Uhr einkaufen – ohne Personal mittels Selbst-Scan-Kasse. Das Angebot in dem Tag-und Nacht-Laden: Lebensmittel, Drogerieartikel, Back- und Fleischwaren sowie Obst und Gemüse. Weitere Pluspunkte: kostenfreier WLAN-Hotspot, eine Elektrotankstelle, eine Paketstation.
Erarbeitet hatte das Konzept Peter John, anfangs gemeinsam mit mehreren Unternehmern. John ist Computerexperte und für die digitale Ausstattung der Märkte verantwortlich. Noch Mitte 2022 erläuterte John im Internet Details: Der Markt werde von über 40 Kameras und Sensoren überwacht, Diebstahl sei kein Problem. Mittels Künstlicher Intelligenz (KI) könne man das Sortiment an die Wünsche der Kundinnen und Kunden anpassen sowie Verderb von Waren reduzieren. Gerade Lieferanten aus der Region könnten eine Regalfläche mieten, ihre Produkte selbst anliefern und ins Regal einräumen. „Wir wollen ein Stück Lebensqualität zurück aufs Land bringen und den ländlichen Raum stärken.“
2021 hatte John für das Konzept in Thüringen den Innovationspreis in der Kategorie Tradition & Zukunft gewonnen, 2022 war das Erfurter Unternehmen „Emma’s Tag & Nacht Markt“ für den Zukunftspreis von Industrie- und Handelskammer sowie Handwerkskammer nominiert. Mit dem Preis werden jährlich herausragende unternehmerische Leistungen gewürdigt sowie innovative und kreative Geschäftsmodelle, die einen wichtigen Beitrag für die wirtschaftliche Entwicklung der Region leisten.
Das Infrastrukturministerium Thüringens hatte 2021 und 2022 jeweils ein Förderprogramm für 24-Stunden-Dorfläden aufgelegt mit maximal 200.000 Euro Fördersumme pro Antrag. Von den in 2021 bewilligten Projekten wurden zehn fertiggestellt und vier befinden sich noch in der Umsetzungsphase. Von den in 2022 bewilligten sechs Projekten wurde aus verschiedensten Gründen nur ein Projekt final umgesetzt, beziehungsweise: es konnte nur ein Dorfladen eröffnet werden. Auch Emma’s Tag & Nacht Markt profitierte von der Förderung.
Peter John und sein Unternehmen hatten zu dieser Zeit sieben derartiger Projekte am Start, jeweils in Gemeinden mit 500 bis 2.500 Einwohnern. Die Investitionskosten für Gebäude und Ausstattung waren parallel zur schwelenden Baukrise erheblich gestiegen, Lieferschwierigkeiten für Kassensysteme und Kühlelemente machten sich breit. Doch John blieb zuversichtlich, berichtete von Anfragen und Plänen in den alten Bundesländern, aus der Schweiz, sogar den USA.
Zuversicht trotz Insolvenz
Dann die überraschende Nachricht: Am 20. Februar 2023 stellte Geschäftsführer Peter John selbst den Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. John machte gegenüber Medien die hohe Inflation, gestiegene Warenbeschaffungskosten sowie Kreditschwierigkeiten für den Schritt verantwortlich. Zugleich zeigte er sich optimistisch und hofft für „Emma’s Tag & Nacht Markt“ auf einen gesunden Neuanfang.
Das thüringische Infrastrukturministerium erläuterte dazu, dass es keine direkte Förderung des Freistaates Thüringen an die „Emma’s Tag & Nacht Markt GmbH“ gegeben habe. Insgesamt wurden sieben Projekte gefördert, bei denen die jeweiligen Fördermittelnehmer, meist Gemeinden, zur Umsetzung eine Kooperation mit der „Emma’s Tag & Nacht Markt GmbH“ eingegangen sind. Vier davon sind noch nicht fertiggestellt und bedürfen noch des Ausbaus der Inneneinrichtung und der technischen Anlagen. Zwei der bereits fertiggestellten und eröffneten Dorfläden werden im Rahmen des Insolvenzverfahrens betrieben. Den übrigen Fördermittelnehmern wird Gelegenheit gegeben, alternative Möglichkeiten zur Fertigstellung bzw. zur Absicherung des laufenden Betriebes zu finden, um eine Rückforderung der Fördermittel zu vermeiden.
Zudem verwies der Freistaat auf ein bewährtes Instrument: die „Richtlinie zur Förderung der integrierten ländlichen Entwicklung und Revitalisierung von Brachflächen“. Seit 2015 wurden hierüber bereits fast 50 Dorfläden in allen Landesteilen Thüringens gefördert. Die Art und Möglichkeit der Nutzung dieser Nahversorgungseinrichtungen liegt dabei im Ermessen der Projektträger:innen, die privat, kommunal, genossenschaftlich oder vereinsgetragen organisiert sein können. Auch die Förderung von 24-Stunden-Läden ist mit der Förderrichtlinie ILE/REVIT möglich. Sie bietet die Vorteile, dass Ladenkonzepte nicht durch Vorgaben eingeschränkt sind, sondern an den örtlichen Bedarf angepasst und konzipiert werden können. Zudem bietet sie längere Umsetzungsfristen.
Informationen: www.tagundnachtmarkt.de
wällermarkt: „Digitale Fußgängerzone“ durch den Westerwald
Die Entwickler der Wäller Markt eG dachten von Beginn an ganzheitlich und regional. Analysen hatten ergeben, dass in den drei Landkreisen Altenkirchen, Neuwied und Westerwald – alle im nördlichen Rheinland-Pfalz – rund 500 Millionen Euro Kaufkraft verlorengingen, vorwiegend an die großen Online-Anbieter. Für den heimischen Einzelhandel war diese Entwicklung alarmierend. Zugleich bestärkte der durch Corona forcierte Online-Trend die seit 2016 aktive Initiative Marktplatz Westerwald in ihrer Vision: einen digitalen Marktplatz für den gesamten Westerwald an den Start zu bringen. Die Region mit den drei Landkreisen verfügt über rund 520.000 Einwohner:innen in 370 Gemeinden auf einer Fläche von rund 2.300 Quadratkilometern.
Im September 2020 wurde die Betreibergesellschaft „Wäller Markt eG“ gegründet – gezielt in der Rechtsform einer Genossenschaft. Ziel des Unternehmens ist es, ein Online-Kaufhaus aufzubauen und zu betreiben, über das alle Westerwälder Einzelhändler:innen und regionalen Erzeuger:innen ihre Produkte anbieten können. Diese gemeinschaftliche Vermarktungsplattform bringt im Gegensatz zum Aufbau individueller eCommerce-Aktivitäten erhebliche günstige Kosten- und Wirkungseffekte.
Mit dem überzeugenden Konzept und nach vielen intensiven Gesprächen war es im September 2021 so weit: Das Land Rheinland-Pfalz förderte den pilothaften Aufbau der Plattform wällermarkt mit rund 985.000 Euro. Das Projekt sei so durchdacht konzipiert, dass der Förderbeitrag im Sinne der Zukunftsentwicklung der ländlichen Region bestens angelegt sei. Die Förderung bestehe aus ELER-Mitteln der EU, erheblich kofinanziert durch das Land Rheinland-Pfalz.
Ganzheitlichen Ansatz forcieren
Die Initiatoren wiesen beim Erhalt des Förderbescheids auf die wichtigsten konzeptionellen Schwerpunkte hin: Bei dem erheblichen Potenzial der erwähnten 500 Millionen Euro Kaufkraft in einem hart umkämpften Markt sei es nicht mehr ratsam, mit zum Beispiel einer kleinräumig angelegten City-App zu operieren. Der ganzheitliche Ansatz sei entscheidend, inklusive eines eigenen Lieferdienstes. Nur so könne man nachhaltig am Markt wirken. So wolle man weitgehend auf Versandverpackungen verzichten und die Lieferung per E-Mobil durchführen. Und auch das erhebliche Potenzial bei Lebensmitteln wolle man heben.
In einer 2021 durchgeführten Umfrage hatten sich Bürger:innen zu 75 Prozent dafür ausgesprochen, im überwiegend ländlich geprägten Westerwald auch Lebensmittel online zu bestellen und sich beliefern zu lassen. So sollen zahlreiche Gemeinden ohne örtliche Lebensmittelversorgung vom Lieferdienst profitieren – denn frische Produkte werden mittels geschlossener Kühlkette bis an die Haustür geliefert.
Im April 2022 waren die Vorarbeiten abgeschlossen und der wällermarkt ging online. Von einem zentral gelegenen Logistikzentrum aus wird die gesamte Westerwald-Region beliefert. Wenn es schnell gehen soll, noch am selben Tag, sonst am Tag nach der Bestellung. Seit dem Herbst 2022 ergänzt ein Gutscheinsystem mit Werten von 10 bis 200 Euro das Westerwälder Angebot. Ein besonderes Plus für Unternehmen: Sie können so über ein eigenes Bonussystem ihren Arbeitnehmer:innen steuer- und sozialversicherungsfreie Zuwendungen zukommen lassen.
Erste Bilanz und Perspektive
Zum Start des Marktplatzes waren 42 Anbieter online geschaltet, zwischenzeitlich ist die Anzahl auf 93 Anbieter angewachsen, weitere circa 15 Anbieter haben Verträge unterschrieben. Die Anbieter rekrutieren sich aus Einzelhandel, Erzeugerbetriebe, Gastronomie und Dienstleistungsgewerbe.
Dabei bietet der wällermarkt ein breites Sortiment aus diversen Produktkategorien an, siehe https://www.waellermarkt.de/de/categories
Während insbesondere die Lebensmittel-Erzeugerbetriebe Sortimente mit weniger als 100 Produkten anbieten, so ist die Kategorie „Bücher / Spielwaren“ mit über 400.000 Produkten im wällermarkt vertreten. Dazwischen erstrecken sich die Sortimentsgrößen zwischen 100 und 5.000 Produkten / Anbieter:innen.
Die Startphase 2022 des wällermarkts fiel zusammen mit dem „Energiepreis-Schock“, der Verbraucher:innen spürbar zusetzte. Da die auf dem wällermarkt angebotenen regionalen Lebensmittel zum Teil deutlich teuer als Discount-Lebensmittel sind, gehen die Betreiber von einer verhaltenen Entwicklung dieses Segments aus. Mangels der Jahres-Vergleichszahlen bleibt dies jedoch eine Vermutung.
Die Verteilung der Bestellungen und Umsätze stellt sich so dar: 69 Prozent der Bestellungen im wällermarkt entfallen auf regionale Lebensmittel, der Rest auf „Non-Food“-Produkte. Der Umsatzanteil der regionalen Lebensmittel beträgt 55 Prozent – mit erfahrungsgemäß niedrigem Warenwert pro Bestellung. Rund 20 Prozent aller Bestellungen kommen aus allen Teilen Deutschlands (außerhalb der drei involvierten Landkreise) und betreffen vorwiegend „Non-Food“-Produkte. Letzteres, weil die meisten Lebensmittelanbieter keine deutschlandweite Lieferung anbieten.
Für 2024 ist der Ausbau der Logistik für Lebensmittel-Lieferungen zwischen regionalen Erzeugerbetrieben und Restaurants, Kantinen, den Verpflegungs-Einrichtungen von Schulen und Kitas geplant. Teilnehmer:innen einer Fachveranstaltung stuften den Bedarf für diese „B-to-B“-Lösung als hoch ein.
Informationen: www.waellermarkt.de
www.genossenschaft.waellermarkt.de
Konzept MarktTreff wird weiter entwickelt
Jürgen Blucha, Abteilungsleiter für nachhaltige Landentwicklung im Ministerium für Landwirtschaft, ländliche Räume, Europa und Verbraucherschutz (MLLEV), erläutert: „Die Sicherung der Nahversorgung in ländlichen Räumen ist bundesweit eine große Herausforderung. Wir haben in Schleswig-Holstein mit unseren MarktTreffs ein tragfähiges Modell entwickelt, für das wir über die Landesgrenzen hinweg große Anerkennung erfahren und das wir kontinuierlich weiterentwickeln. Dazu werden wir auch künftig über den Tellerrand schauen und den Austausch mit den anderen Bundesländern zu innovativen Ansätzen pflegen.“
Dabei blieben, so Blucha, die drei Säulen des Modells „Kerngeschäft“, „Treffbereich“ und „Dienstleistung“ als Fundament der multifunktionalen Nahversorgungszentren weiter bestehen. Potenzial sieht er in der Digitalisierung der MarktTreffs, ohne den sozialen Aspekt des Projektes zu vernachlässigen. Jürgen Blucha: „Die Menschen in den Gemeinden stehen dabei aber immer im Vordergrund.“
Informationen zu Gründung und Betrieb eines MarktTreffs
Bei Interesse an der Gründung eines neuen MarktTreffs nehmen Sie bitte Kontakt auf mit dem Projektmanagement unter:
gruendung@markttreff-sh.de
Detaillierte Informationen zum Projekt MarktTreff mit vielen Arbeitshilfen und aktuellen Tipps finden Sie unter:
www.markttreff-sh.de
Das Projekt MarktTreff wird gefördert durch den europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER), die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz (GAK) und das Land Schleswig-Holstein.
Fotos: MarktTreff SH / ews group, Tante-M, wällermarkt, Emma’s Tag & Nacht Markt